Überlegungen zu einer genderneutralen deutschen Grammatik

Inhaltsverzeichnis

1 – Nicht unwesentliche Hinführung
1.1 – Turbulenzen der Gleichstellung
1.2 – Von Doppelpunkten und Comichelden
1.3 – Feixende Umstülpung und entzahntes Maskulinum
1.4 – Partizipierung als Symptom von Einfallslosigkeit
1.5 – Intersektionales Wohlfühlen
2 – Anforderungen an ein sexusindifferentes Genus
3 – Die Grammatik
3.1 – Ein gefälliger Entwurf: Das Ojum
3.2 – Undifferenzierte Formen erhalten
3.3 – Pronomen, Akkusativ, Dativ
4 – Schwächen anderer Ansätze
4.1 – Warum nicht „das“ als Artikel und „es“ als Pronomen?
4.2 – Warum nicht -y?
4.3 – Warum nicht -il?
4.4 – Warum nicht -x?
4.5 – Warum nicht -ä und der Artikel „dä“?
4.6 – Warum nicht -re und Plural -erne?
4.7 – Wieso nicht -eu statt -oj für den Plural?
4.8 – Warum schreibst du „man“?
5 – Wie sollen wir das bekanntmachen?
6 – Weiterführende Lektüreempfehlungen

1 – Nicht unwesentliche Hinführung
1.1 – Turbulenzen der Gleichstellung

Über das vergangene Jahr hat es genderinklusive Sprache geschafft, aus dem linken akademischen Diskurs in die generelle deutsche Presseöffentlichkeit durchzudringen. Sprache formt das Denken und darum sehen wir einen Haufen Männer vor uns, wenn wir von „Programmierern“ sprechen, was mittelbar bewirkt, dass sich weniger Frauen für IT-Berufe interessieren. Ist die Rede von „Erziehern“, ist die Bildtendenz dagegen nicht so eindeutig, denn das Stereotyp ist dort ein anderes. Die immer wieder behauptete Eindeutigkeit des generischen Maskulinums als bloßes Maskulinum sehe ich nicht als gegeben an, gleichwohl werden damit Frauen nicht mitgesprochen, sondern nur politisch mitgemeint. Möchte man explizit Menschen beider gängiger Geschlechter in eine Gruppenbezeichnung einschließen, so hat man verschiedene Optionen: Sprachlich am wenigsten umstürzlerisch ist die Nennung beider grammatikalischer Geschlechtsformen des Deutschen. Nachteilig ist die Ausführlichkeit, die dazu verleitet, die Nennung der zweiten Form für die Reduktion des Satzbaus zu unterlassen. Verkürzungen sind die Binnen-Groß-„Innen”-Schreibweise („BürgerInnen“, Binnenmajuskel) und die Unterstrich-„innen“-Schreibweise („Hausmeister_innen“, Gendergap). Letztere wollte mit der buchstäblichen Leerstelle einen Raum auftun für die geschlechtlichen Identitäten, die sich nicht vollumfänglich mit einer der angebotenen Endungen identifizieren.

1.2 – Von Doppelpunkten und Comichelden

Das Gendersternchen folgte als weniger stark empfundene typographische Zumutung: Das Asterisk-Symbol wird in der Informatik eingesetzt als sogenannte Wildcard, die für beliebige Zeichen stehen kann, wie in LSBTTIAQ+. Neuere Überlegungen sind die Doppelpunkt-Schreibweise (Historiker:innen) – von vielen präferiert, weil typographisch noch unauffälliger – gefolgt von der Markierung durch Trema („Busfahrerïnnen“). Die Trema-Variante ist radikal unauffällig, was die Verwechslungswahrscheinlichkeit mit der dezidiert weiblichen Form erhöht, zudem wird sie als nicht tippbares Zeichen in einer technisierten Welt, die sich nicht einmal zugunsten überlegener moderner Tastenanordnungen von hundertfünfzigjährigen Tastaturlayouts trennen mag, bescheidene Aussichten haben. Es heißt, für blinde Menschen mit Bildschirmleseprogrammen sei der Doppelpunkt zugänglicher als das Sternchen, wobei jenes als Softwareanpassung schon in manchen Programmen berücksichtigt worden ist. Die Meinungen gehen jedoch auseinander, so wird aus den Reihen der Vorlesenlasser auch für den Unterstrich plädiert oder für die schlichte Beidnennung oder Ersatzwörter. Man kann festhalten: Die Empfehlungen für Sehbehinderte werden kontrovers diskutiert und die fixe Idee der kulturintellektuellen Debatte, sprachliche Gleichstellung nur durch syntaktisch verwegene Mittel zu erlangen, trägt nicht positiv bei.
Nachtrag Juli 2023: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes empfiehlt den Genderstern, dieser sei die häufigste Kurzform und komme einem Konsenszeichen am nächsten, zitiert sie den Deutschen Rechtschreibrat. Dieser Position schließt sich auch der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband an. Bildschirmlesesoftware habe sich bereits darauf eingestellt und könne den Asterisk und vermutlich auch das beim Hören verkomplizierende nachfolgende „-innen“ überspringen. Aus dem Rennen um ein interventionistisch-syntaktisches Markierzeichen einer beabsichtigten genderneutralen Form scheint also das Gendersternchen als Sieger hervorzugehen.

Beide Doppelpunktvarianten, das Trema und der Binnendoppelpunkt, verzichten auf den ideell sprachphilosophisch konzipierten Raum der Identitätenvielfalt und wollen auch kein Stolperstein sein, der darüber anregt zu reflektieren, welches Sprachbild und welche Gruppe Menschen gerade evoziert werden. Das dürfte ein Grund für die Popularität des Doppelpunktes in sozialen Netzwerken sein: Auf Pädagogik verzichtet er, strafft das gedankliche Modell, das beim Lesen aufgenommen wird. Typographisch minimal-invasiv ist er auch, das lässt für manche die Hoffnung keimen, damit auch bis in ältere und verbortere Gesellschaftsschichten durchdringen zu können. Konservativ-christliche Kreise interpretieren indes den Doppelpunkt gar explizit so, dass damit von einem rein binären Geschlechterverhältnis gesprochen würde. Die fehlende Symbolebene konterkariert die Doppelpunkt-Schreibweise, reduziert die geschlechtliche Inklusion auf die Einbeziehung von Frauen.

1.3 – Feixende Umstülpung und entzahntes Maskulinum

Dann wäre da auch noch die Verwendung eines generischen Femininums, das sich als näckische Revanche hervortut: Männer sind natürlich mitgemeint. Als Reflexionsspiel interessant, versucht es noch nicht einmal, Gleichstellung und Inklusion sprachlich zu verwirklichen und tendiert zum Lagerdenken der Publikationen mit generischem Femininum und derer ohne. Kontrastierend zur feministisch offensiven Umkehrung der sprachlichen Gebräuchlichkeiten möchten Frauen aber Männer gar nicht so gern mitmeinen, wenn sie eigentlich über ihre eigene weibliche Gruppe sprechen möchten. Das generische Femininum erweist ihnen dabei einen Bärendienst.

Eine andere feministische Schule würde gern das generische Maskulinum sprachstrategisch zum generischen Neutrum weiterentwickeln, sodass die weiblichen Formen aus dem Gebrauch abfielen und sprachlich eine Gleichberechtigung hergestellt würde, die in ihren Augen durch die momentane zwangsläufige Markierung der weiblichen Form nicht hergestellt ist und nicht-männliche Menschen damit als Sonderform diskriminiere. So die Position, die insbesondere der Autor Nele Pollatschek (gewünschte Eigenbezeichnung) vehement vertritt. Das ist ein eher anglo-amerikanischer Sprachdiskurs und dürfte meiner Einschätzung nach hierzulande nicht mit dem Selbstverständnis der Identität als Frau übereinstimmen, die sprachlich sichtbar gemacht werden (können) will, um gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern. Der von Aktivistinnen angeführte Vergleich mit dem Englischen ist auch nicht stichhaltig: So ist die theoretisch exklusiv maskulin lesbare Form „actor“ dort tatsächlich anders als im Deutschen nie grammatikalisch gegendert gewesen, wohl aber „actress“ als Sonderform für die explizite Sonderbezeichnung von Frauen verwendet worden. Auch für regulär auf -er gebildete Wörter wie „writer“ oder „farmer“ kannte das Englische gar nicht erst weibliche Markierungen. Nachtrag: Da habe ich nicht gründlich recherchiert – doch, es gab die „farmeress” und die „writeress“, die „poetess“ etc. Mit der schrittweisen und unkoordinierten Abkehr von gegenderter Grammatik ab dem Mittelenglischen wurden dann offenbar auch diese weiblichen Formen verdrängt. Es liegt nahe, dass die Motivation dabei jedoch nicht sprachliche Gleichstellung gewesen ist, sondern schlicht logisches Sprachgefühl, nachdem die grammatikalische Komplexitätsreduktion bereits das vom Nordseegermanischen geerbte grammatikalische Substantivgenussystem weitgehend getilgt hatte. Da heute nur noch wenige dieser femininen Formen in modernen englischen Wörterbüchern stehen, stets mit Bemerkung „dated” (abgesehen von einer Handvoll Verwandtschaftsbezeichnugen), gehe ich davon aus, dass sie ab dem Neuenglischen nur noch in gezielt herabwürdigender Absicht genutzt wurden. Insofern unterscheidet sich die Verwendung dramatisch zum Deutschen und nur mit Wissen der grammatischen Genese des Englischen wird dieser Unterschied verständlich. Siehe zu den Vorschlägen von Nele Pollatschek auch die Kommentierung einer renommierteren Sprachwissenschaftlerin im Anhang.

1.4 – Partizipierung als Symptom von Einfallslosigkeit

Als eine weitere mehr handsärmliche Methodik der sprachlichen Gleichstellung vor allem der verbalen Sprache hat sich in linksprogressiven Kreisen die Verwendung des substantivierten Partizips als allgemeines Credo etabliert: Prominent „die Studierenden“, aber soll man dann auch sagen „die Backenden“, „die Erziehenden“? Sind „Auszubildende“ jene, die man mal ausbilden sollte? (Früher: Lehrlinge.) Was sind „Wahlkämpfende“ noch nach der Wahl? Das Problem bei der Verwendung der Verlaufsform ist, vor etwaigen zu ereigneten Bedeutungsverschiebungen, grammatikalisch damit in erster Linie Gruppen zu bezeichnen, die sich in diesem Moment einer Tätigkeit hingeben. Sitzen in der Kneipe wirklich biertrinkende Studierende? Biertrinkende Studenten hingegen gibt es schon. Oder auf eigene Kosten: Ich bin zwar Student, aber studiere ich auch wirklich? 🤪 Zwar sind parallele Verlaufsformen wie „reitende erwerbsarbeitende Studierende“ denkbar, aber die Verwendung führt den Sinn der Form ad absurdum. Grammatikalisch verwässert die Partizipierung die Eindeutigkeit des Gegenstands und sie möchte so gern korrekt sein, aber verliert sich doch in nach deutscher Amtsstube miefenden funktionalästhetischen Schauderlichkeiten.

1.5 – Intersektionales Wohlfühlen

Der erbitterste Kulturkampf des Bereichs wird momentan zwischen Befürworter*innen des Glottisschlags, der gesprochenen Pause beim Lesen des Sternchens, und den bürgerlich-konservativen Befürworter*innen des generischen Maskulinums ausgetragen. Im Rahmen dieser Anstrengung beobachte ich exzessiven Einsatz des „-innen“-Suffix auch bei Beschreibungen von Gruppen, die zwar tatsächlich wirklich rein männlich sind, man aber diese genderinklusive Form wählt, um die Gruppendefinition pauschal offen zu halten: Von den „Investor*innen“ zu schreiben, obwohl sie tatsächlich nur Dudes sind, transportiert Fehlannahmen: Dass es sich um eine gemischte Gruppe handele und, zweitens, dass das Geschlecht der Personen für die konkrete Information überhaupt Relevanz habe. Wird schriftlich standardmäßig statt fallweise auf das Sternchen zurückgegriffen, kommt noch die Fehlinformation hinzu, dass sich in der Gruppe auch nichtbinäre Personen befinden würden. Das gaukelt mit Mitteln der linguistischen Inklusion eine feministische Utopie als Ist-Zustand vor und zerschellt bei der Gegenüberstellung mit der Realität.

Oder will man für eigentlich bekannte Personen der Gruppe offenlassen, dass sie sich noch als nichtbinär outen könnten und geht in eine drollige Vorleistung, um niemandens eventuell fragile, sich noch im Ringen mit sich selbst befindende Geschlechtsidentität durch eine zuschreibende Genderung Schaden zuzufügen? So funktioniert die Kategorie Genus in Sprachen aber nicht. Das Genus ist bekannt, wenn die Personen bekannt sind. Die Personen geben ihr Gender, ihre Pronomen, idealerweise beim ersten Kontakt bekannt, so dass sie bei schon bekannten Personen als gesetzt gelten können. Oder sie geben eine spätere Änderung deren bekannt. Wer bei nach seinem aktuellem Wissensstand binärgeschlechtlichen Personen dennoch das Sternchen setzt, verwirrt mit falsch verstandenem feministischen Aktionismus. Genus in Sprachen trägt Bedeutung und wenn es in dieser expliziten Form offengelassen wird, während es zwischen die zwei binären Optionen gereiht wird, dann ist der Effekt nicht ein Auslassen von Bedeutung des Geschlechts, sondern gerade die Zuspitzung auf die Bedeutung des Geschlechts.

Hinzu kommt, dass die expressive Aussprache des „-innen“-Suffix trotz des Glottisschlags – der auch gern unterschlagen oder verschliffen wird – und Sprache tendiert immer zur Verschleifung! – die offenbar besondere Bedeutung der weiblichen Gruppenmitgliederinnen hervorhebt und bei kurzen Substantiv-Stammformen das Wort übermäßig streckt. Heraus kommt oftmals de facto das generische Femininum. Die Ironie ist, dass der Wunsch nach expliziter sprachlicher Inklusion von Frauen eine Kernbohrung des generischen Maskulinums in Gang gesetzt hat, die es schwierig gemacht hat, überhaupt noch eine unspezifische Form zu finden, unter der sich wirklich noch alle mitgemeint verstehen.

Keine öffentliche Beachtung erfahren hat bislang die Tatsache, dass das „-innen“-Suffix hinter der männlichen Endung steht und damit patriarchale Verhältnisse fortschreibt. Es ist noch das Eine, eine einfache weibliche Substantivform wie „Bäckerin“ durch Hinzufügen des sich nun einmal so historisch entwickelt habenden weiblichen Suffix hinter der männlichen Standardform zu erzeugen. Das kann man schon mal hinterfragen und ich erwarte auch, dass hier mittelfristig eine autarke Form entstehen wird. Meiner Meinung nach aber diskussionswürdiger wird es, Frauen in neuen, eigentlich bewusst progressiven, gemischtgeschlechtlichen Substantivformen stets an letzter Stelle zu nennen. Wiche man alternierend davon ab (bevor sich eine mögliche autarke weibliche Form breit etabliert hätte), wie in „Bäckinnen*er“ (das wäre ein Plural), würden die Wörter nur noch erschwert wiedererkannt werden können, man heimste sich neuen Ärger mit der regelmäßigen Diskussion um die Morphemstellung ein und statt inklusive Klarheit zu schaffen, würde die Form beliebig und grammatikalisch noch verzwickter.

An diesen skizzierten Diskurslinien bewegt sich die Debatte nun schon eine ganze Zeit lang und nach meinem Empfinden hat sie sich verhärtet. Dabei hat die sprachliche Kreativlosigkeit des deutschen kulturintellektuellen Milieus mich manches Mal staunen lassen. Dass es mit dem Einsatz des generischen Maskulinums nicht weitergehen kann, steht außer Frage. Zwischen oft unmöglich klingendem Partizip-Gerundium und den umständlichen, raumgreifenden, zumal ohne Sternchen nicht inklusiven Formen mit dem „-innen“-Suffix, diese ‚dirty Hacks‘, an denen im Grunde alles schreit: „Wir sind nur eine Brückentechnologie!“, was ist die Lösung?

Es liegt auf der Hand: Wir müssen die deutsche Grammatik um eine entgenderte Substantivklasse erweitern.

2 – Anforderungen an ein sexusindifferentes Genus

Das generische Maskulinum erfährt in letzter Zeit einen nachdrücklich gewollten Bedeutungswandel von der generischen Form, die immerhin politisch alle mitmeinte, zu einer exklusiv männlichen Zuschreibung. Was bedeutet das für Agender-Personen, für Nicht-Binäre, für Genderfluide? Für sie gibt es in aktuellen Angeboten einzig für die Schriftsprache zwar die in nichtakademischen Kreisen unbeliebte Schreibweisen mit Sternchen oder Unterstrich. Aber wird die Verbalsprache nicht gerade noch stärker binär strukturiert, wenn alles in -er und -in gegendert wird und kein flexibler Raum für Personengruppen bleibt, die sich nicht im dichotomen Geschlechtersystem wiedererkennen? Gesprochen als jemand, der sich auch selbst im weiteren Sinne in diesem Spektrum verortet: Ich empfinde den jetzt versuchten Dualismus des gleichzeitigen (pausierten) verbalen Nennens der zwei Genus-Formen als unangenehm. Aus ihm spricht jedes Mal die Aufforderung, sich zuzuordnen.

Wäre es nicht klüger, stattdessen die Grammatik zu erweitern? Mein Ansatz wäre also, die Sprache zu ent-gendern statt fest-zugendern.

Für die Herstellung geschlechtergerechter Sprache sind momentan zwei nur vordergründig sich widerstrebende Interessen erkennbar: Das Gendern, um politisch (meist binär-normative) Inklusion und Sichtbarkeit zu erreichen und das Entgendern (der Weg schon der Partizipierung und der Umgehwörter), um die Kategorie Geschlecht aus den Sprachbildern zu entfernen, in denen sie ohne Not steht. Ein konsequenterer Ansatz des Entgenders wäre, die Grammatik zu erweitern. Dieser Weg würde sich letztlich sogar als weniger umstürzlerisch erweisen, weil dabei eben keine neuen genusvermeidenden Wörter etabliert werden müssten und der öffentliche Sprachgebrauch nicht langwieriges und kaum vermittelbares Projekt einer umfassenden Reformation der Wortwahl würde. Eine argentinische Jugendbewegung macht gerade vor, wie es geht: Sie ersetzen im Protest die gegenderten Motionssuffixe -o und -a des Spanischen mit einem -e und schaffen damit eine genderneutrale Substantivform in einer Sprache, die bislang vergleichbar mit dem Deutschen für Menschen nur eine männliche und weibliche Form kannte.

Das können wir auch. Ich bin nicht der Erste, der diesen Vorschlag macht. An den bisherigen Vorschlägen habe ich allerdings Schwächen erkannt. Anhand dieser habe ich für meine Überlegungen für eine genderneutrale Substantivform im Deutschen diese Anforderungen formuliert:

  • Sie muss praktikabel sein
  • Sie muss sich sprachmelodisch einfügen
  • Sie muss unvorbelastet und grammatikalisch eindeutig sein
  • Sie sollte vorhandenen grammatikalischen Formen kein Bein stellen
  • Sie sollte deutsch klingen und deutsch aussehen

Praktikabel sein meint, die Form muss auch außerhalb des akademischen Felds von Menschen akzeptiert werden können und sich durch ihre Gestaltung idealerweise auch für die Alltagssprache anbieten. Wieso muss sie sprachmelodisch kompatibel sein? Wir wollen das bisherige generische Maskulinum ersetzen können, ohne der Sprachästhetik zu schaden. Der Partizipierung kann man immerhin zu Gute halten, mit ihren furchtbaren Formen im Grunde bereits das Tor zu einer erweiterten Grammatik aufgestoßen zu haben. Für die öffentliche Akzeptanz gilt es ein Angebot zu entwickeln, das weniger schmerzhaft ist als die Partizipierung und weniger umständlich als genusvermeidende Alternativformulierungen.

3 – Die Grammatik
3.1 – Ein gefälliger Entwurf: Das Ojum

Kurzum, mein Vorschlag für ein sexusindifferentes Genus wäre:

-u beim Singular

der Schüler (m/w/d): dej Schülu

dej Lehru, dej Fabrikarbeitu, dej Theologu, dej Handwerku, dej Bauu, dej Virologu, dej Epidemologu

-oj beim Plural

die Schüler Plural (m/w/d): die Schüloj

die Lehroj, Fabrikarbeitoj, Handwerkoj, Bauoj, Epidemologoj, Studentoj, Kommolitonoj, Moderatoroj, Ärztoj

Im Singular -u, im Plural -oj, kommt super geschmeidig rüber als entgenderte Substantivklasse.

Die Morpheme setzen sich klanglich vom -er ab und sind dennoch sprachmelodisch kompatibel: Dej Dichtu, die Pflegoj, die Informatikoj. Es klingt alles ungewöhnlich, aber vertraut. Anders als beim Glottisschlag sind diese Formen auch absolut gesangsfähig – ein Test, den ich für die Akzeptanzchancen als Umgangssprache anlege.

Es gab noch im Gotischen eine neutral gegenderte Substantivklasse auf -u (aber genutzt wohl eher für Fälle, bei denen wir heute „das“ als Artikel führen). Ein -u Suffix findet sich nur in wenigen deutschen Wörtern, vor allem aber in „au“-Kombination, in der das „a“ dominanter klingt. Altgriechisch nutzte eine Form auf -oi (praktisch identisch mit -oj) und Latein ein -ae (gesprochen wie aj). Auch die Plansprache Esperanto hat einen generell neutralen Plural auf -oj. Die zwei neuen Suffixformen für das Deutsche stehen also in gewisser Tradition zum Gotischen, Altgriechischen und Esperanto und klingen dabei dennoch weitgehend sprachtreu deutsch.

Wie ihr schon gelesen habt, ist meine Idee für den Singular-Artikel „dej“: Es ist ein Verfließen von [d]ie und [d]er (sprecht mal schnell wechselnd die/der aus). Melodisch sogar nahe am englischen „they“, was nichtbinäre Personen häufig als Personalpronomen für sich wünschen. Für den Plural wird wie für die anderen Formen „die“ verwendet. Im Plural-Suffix -oj findet sich dennoch wieder das j. Ich könnte jetzt irgendeine ideelle Bedeutung in das j dichten, aber letztlich passt es einfach nur gut. Wir sind das j schon in kurzen Wörtern von ja, jain, jo und ahoj gewöhnt, so dass „dej“ als keine allzu ungewöhnliche Bildung scheint.

3.2 – Undifferenzierte Formen erhalten

Der dej-Artikel ermöglicht uns, bei bislang ungeschlechtlich gebildeten Formen ohne -e(r)-Suffix – je nach Anforderung – auf eine Genderung zu verzichten. Damit gehen wir behutsam mit der Sprache um und erhalten uns diese unspezifischen Formen:

dej generelle, nicht näher spezifizierte Moderator (m/w/d)
dej nichtbinäre Moderator, dej genderfluide Redakteur – trotzdem: „kein Redakteuru von uns“, weil davor grammatikalisch ein männliches Zahlwort steht, oder: „keinu Redakteur“
dej generelle, nicht näher spezifizierte Arzt (m/w/d) – trotzdem bei Erfordernis möglich: ich bin Arztu
dej klimabewegte Demonstrant[u] – wie oben mit möglichem u bei männlicher Grammatikunschärfe im Satzkontext
dej Student[u]
dej Pirat[u]

Aber Plural:

die Moderatoroj – Moderatoren, explizit m/w/d
die Redakteuroj – Redakteure, explizit m/w/d
die Ärztoj – Ärzte, explizit m/w/d
die Demonstrantoj – Demonstranten, explizit m/w/d
die Studentoj – Studenten, explizit m/w/d
die Piratoj – ^^

Satzbeispiele:

Das Rektorat wünscht allen Studentoj einen guten Start ins neue Semester.
Unter allen Redakteuroj stach die Redakteurin Anke mit ihrer Arbeit besonders hervor.
Die Mitarbeitoj gehen in Streik.
Elternbrief: Dej Schülu sollte wetterfeste Klamotten für die Klassenfahrt einpacken.

Würde die pauschale Standardverwendung sich vom generischen Maskulinum bei bisherigen -er-Wörtern hin zu -u und -oj entwickeln, würde das wie von selbst das Problem auflösen, dass wir meinen, auch die eigentlich unspezifischen Formen auf -t, -ent, -ant und -or oben durchgendern zu müssen. Diese unspezifischen Substantivformen waren eigentlich einmal das, was die Partizipform heute gerne wäre: Die Formen -ent und -ant stehen in der Regel für flüchtige Identitätszustände, die sich auf eine allgemeine Tätigkeit beziehen. Bei ihnen zählt nicht das Individuum, sondern welche Rolle es kurzzeitig annimmt. Die -or-Form bezeichnet eigentlich eine ausführende technische Funktion innerhalb eines Apparats, kein Individuum (Professor, Moderator, Administrator). Häufig handelt es sich bei den Bezeichnungen um akademisch erlangte Grade, das trifft noch umso mehr bei den Formen auf -t zu (Arzt, Jurist). Diese Formen waren nie explizit sprachlich maskulin gegendert, wir haben es höchstens generisch angenommen, weil die Rollen gesellschaftlich meist von Männern ausgeführt worden sind. Alles, was es noch bräuchte, um die Unsicherheit des Anspracheumfangs zu beseitigen, wäre der neutrale Artikel dej davor.

Es spricht überhaupt gar nichts dagegen, von „der [spezifischen] Historikerin“ oder „dem [spezifischen] Schauspieler“ zu sprechen, wenn die geschlechtsanzeigende Genderung an der Stelle personalisierte Relevanz hat und es nicht um heterogene Gruppen geht. Die erweiterte Grammatik ergänzt um eine neue Substantivklasse, die sich zum Standardfall mausern könnte, aber sie nimmt niemandem etwas weg. Anders als manche geschätzte linguistische Kollegen bin ich der Ansicht, dass es aussichtslos wäre, mit dem Projekt eine komplette Restrukturierung der Grammatik anzustreben.

3.3 – Pronomen, Akkusativ, Dativ

Ein Nachteil des Weges einer erweiterten Grammatik: Wir benötigen auch neue Pronomen. Die brauchen wir aber sowieso mittelfristig, da sie von Nichtbinären eingefordert werden (bislang, ohne dass sich ein klarer Favorit fürs Deutsche herausgebildet hätte). Ich will diese Vorschläge mehr als Diskussionsbeitrag verstanden wissen:

Personalpronomen: er/sie / oj
Possesivpronomen: sein[e]/ihr[e] / juj[e]
Fragepronomen: welcher/welche / welchu? Pl: welchoj?
Oj hat juje Hausaufgaben vorgestellt. Welchu Schülu hat wieder nicht aufgepasst?
Akkusativ: ihn/sie / ojn
Dativ: ihm/ihr / ojm

Das Personalpronomen oj könnte verwirren, weil es als Suffix für den Plural steht. Alternativ „ui“ ist schwierig, weil es den überraschten Ausruf „Ui!“ bereits gibt. Wenn man er/sie schnell hintereinander spricht, kommt aber oj heraus, darum bleibt das die logische Wahl.

Possesivpronomen: seine/ihre schnell hintereinander gesprochen verschmilzt zu einem zweisilbigen Klang mit j vorne und e hinten. Juje wäre sprachmelodisch passend und unvorbelastet. seine/ihre/meine/eure haben am Ende alle ein -e, darum gebietet es die Konsistenz, hier kein -oj zu wählen.

Fragepronomen: -u im Singular und -oj im Plural.

Weitere Durchdeklination der Fälle des Ojums habe ich auf Pronouns.page eintragen lassen.

4 – Schwächen anderer Ansätze
4.1 – Warum nicht „das“ als Artikel und „es“ als Pronomen?

Wer sich gern sprachlich mit einem Pferd gleichstellen möchte, soll das tun – ich halte „das“ als Genus für Menschen für eine unüberlegte, gefahrbergende Geschmacksverirrung. Man kann nicht einfach so tun, als hätte unser „das“ dieselbe neutrale Bedeutung wie das englische „the“. Im Deutschen denken wir in der/die/das(/die/wir/du/ich). Unser „das“ ist etymologisch sachlich, tierisch, auf jeden Fall untergeordnet. Die Wörter, bei denen wir zwar bereits den Artikel verwenden, „das Mädchen“, „das Kind“, „das Fräulein“, sind allesamt historisch Fälle hegemonial männlicher Machtverhältnisse. „Das Mädchen“ bekommen wir so schnell sprachlich nicht getilgt (mein Vorschlag war „die Maide“, die Partizip-Fraktion würde wohl „die Mädelnde“ draus machen), dennoch tendieren wir schon heute in der intuitiven Verwendung dazu, das natürliche Geschlecht statt des grammatischen Geschlechts zu wählen: „Das Mädchen machte sich auf den Weg. Dabei pfiff sie fröhlich vor sich hin.“ Der dingliche Artikel erscheint unserem Sprachgefühl nicht gerecht.

Aber ich möchte noch einmal auf das gefahrbergende Potential zurückkommen: Der Artikel und sein dazugehöriges Pronomen „es“ sind eine – sicherlich ungewollte – Entmenschlichung und dadurch erst recht eine Stigmatisierung. Wohin Entmenschlichung in diesem Land schon einmal geführt hat–– Man muss wachsam sein, was man mit solcher Grammatik heraufbeschwört. Das „das/es ist zwar vergleichsweise praktisch umsetzbar, aber macht euch außerhalb von geschützten Bereichen durch seine herkömmliche Bedeutung zum perfekten Opfer.

Da mag nun wer einwenden: Aber Bedeutung kann sich wandeln! – So funktioniert das aber nicht. Den „das“-Artikel genderneutral zu etablieren versuchen ist genauso ein Irrweg wie zu fordern, feminisierte Substantivformen abzuschaffen und zu versuchen, aus dem generischen Maskulinum ein Neutrum zu schnitzen.

4.2 – Warum nicht -y?

Weil zu englisch. Und objektiv albern. Man muss nicht Mitglied im rechtslastigen Verein deutscher Sprache sein, um hier argwöhnisch eine quasi-imperialistische englische Sprachvereinnahmung aus einer Schnellschusslaune zu unterstellen. (Sagt mal Uni Braunschweig, wollt ihr uns Germanistys verhohnepipeln? Siehe „Entgendern nach Hermes Phettberg“ [und Thomas Kronschläger], auch hier und hier.)
Aber sachlich geblieben: In der Verbalsprache ist ein -y ein -i und klingt wie der italienische Plural. Den gibt es vereinzelt auch im Deutschen, die Verwirrung ist komplett. Auch wird das -i im alemannischen Sprachraum als Diminuitiv eingesetzt: „Das Häusli“, „das Bärli“. Diese Verwendung ist nicht nur Schweizern und Schwaben geläufig, sondern wird hinreichend im deutschsprachigen Raum erkannt und als solche eingesetzt: „Mausi“. Der Vorschlag für die Pluralbildung mit -ys empört durch seine Stumpfheit. Grundlegend konfligiert er mit der Bildung des Genitivs – zwar haben wir Pluralwörter wie „die Autos“ und können „Herkules’“ im Schriftlichen durch Apostrophierung als Genitiv markieren, eine Erstreckung auf alle Substantivformen (oder auch nur menschliche Gruppen) würde das vorhandene Unschärfeproblem aber potenzieren. Toppen könnte den Vorschlag nur noch die Empfehlung, doch -ies nach englischer Grammatik zu schreiben.

4.3 – Warum nicht -il?

Weil es cartoonesk chinesisch klingt. Schülil, Lehril, Bäckil. Ihm fehlt die sprachmelodische Nähe zum -er. Typographisch sieht es auch unschön aus, das l drängt sich als Schlusstürmchen am Wortende gehörig auf und macht das schnelle Erfassen von kurzen ‚ebenen‘ Wörtern schwieriger. Dieses Suffix ist der Vorschlag von der sprachfeministischen Vordenkerin Luise Pusch (SZ+) (siehe auch die Lektüreempfehlungen weiter unten).

4.4 – Warum nicht -x? Für „Exit Gender“ nach Lann Hornscheidt?

Der klassische Fall von akademischem Elfenbeinturm, Akzeptanz in der Breite aussichtslos. Das ist schon Realsatire, es tut mir leid. Sprachmelodisch weder passend noch schön, in grammatikalischer Hinsicht ein Auffahrumfall und hat typographisch eine zweifelhafte, allenfalls gallische Qualität.

Nachtrag: In den Tagesthemen vom 09.06.2021 hatte Hornscheidt einen neuen Suffixvorschlag: „-ens“, aus dem Mittelteil von „Mensch“ (bei 1:55 min). Offenbar soll das Wort auch gleichermaßen für Possesivpronomen, Personalpronomen, Zahlwort etc. herhalten: „Ein Käufer und sein Einkaufskorb → Ens Käufens und ens Einkaufskorb“, war das geäußerte Beispiel. Damit handelt es sich um eine maximal missverständliche Singularform – mein Sprachgefühl würde dahinter allenfalls einen Plural erwarten. Der Plural soll dann was sein…? Die Grammatikprobleme mit dem „s“ als letzten Buchstaben, die ich oben beim „-y”-Vorschlag angeführt habe, gelten noch als Bonus oben drauf. Dieses Labortwort „ens“ müsste stets zwingend nötig sein „s“ tragen, ansonsten würde das Morphem zu unspezifisch. Mit dem „s“ lässt sich aber kein Fragepronomen, Akkusativ, Dativ daraus bilden. Oder soll die grammatische Spezifität des Deutschen einfach zugunsten eines „ens” für alle Lebenslagen aufgegeben werden? Auch hier wieder: Akademischer Elfenbeinturm. Mich überzeugt das nicht.

4.5 – Warum nicht -ä und der Artikel „dä“?

Weil es furchtbar aussieht und weil es lächerlich klingt. – Dä-dä-dä-DÄ! Das war Beethoven. Zumindest hat sich der Erfinder auf seiner Homepage lesenswerte Gedanken zur Grammatik gemacht. Entgegen meiner kleinen humoristischen Entgleisung habe ich für jedu Respekt, dej sich schon vor Längerem des Themas angenommen hat.

4.6 – Warum nicht -re und Plural -erne?

Über den neuen Verein für geschlechtsneutrales Deutsch (gegründet nach Erstveröffentlichung meines Textes) bin ich auf einen weiteren Vorschlag für geschlechtsneutrale deutsche Grammatik gestoßen: „de Lehrere“ im Singular, „die Lehrerne“ im Plural.
Klingt erstmal nach einem gangbaren Kompromiss. Aber die Formen sind schlicht zu lang. Allein das wird es schon schwierig machen, die Formen als Ersatz für das generische Maskulinum verkauft zu bekommen. Ein Silbenhauch mehr, zwei getippte Buchstaben mehr, das schlägt stärker ins Gewicht, als der Verein sich das vorstellen mag. Mir missfällt auch, dass das bisherige -e[r] nur ergänzt wird, statt es einzutauschen in einen wirklich neutralen Suffix. So wie das da steht, erweckt es für mich den Eindruck: Es ist wie BürgerInnen ein Addendum an das bisherige psycholinguistische Denkmodell des ‚eigentlich‘ standardmäßig generisch Maskulinen, hier wird nun das „-Innen“ eingetauscht in eine Form, die ohne Sternchen nun auch Nichtbinäre einschließt. Nebenbei schreibt man dabei noch unbeabsichtigt patriarchale Verhältnisse fort. Aber wieso bleibt die generisch maskuline Form als Stammform stehen? Wieso traut man sich nicht, ein grundständig eigenständiges Motionssuffix einzuführen? Der Plural erweckt auch starke Assoziation an die Partizipierung (die grundsätzlich einmal als Verlaufsform gedacht war und daher noch immer irritiert). Der Artikel „de“ wäre hinnehmbar, aber ich habe ein Störgefühl bei der Wortähnlichkeit zum Französischen. Selbst ohne diese Assoziation wirkt der Artikel für mich als Wort in der Reihe von der/die/das schlicht unvollständig, auch wenn die Schreibung phonetisch Sinn ergeben mag. Die vom Verein ebenfalls präsentierte Alternative „dey“ ist in nichtbinären Kreisen schon gebräuchlich, das -y passt aber nicht zum Deutschen, darum plädiere ich schließlich für das „dej“. Die zweite Artikel-Alternative „dier“ mag zwar eine clevere Wortschöpfung sein, würde im praktischen Gebrauch aber zu nahe am „dir“ liegen, und ich halte es zudem für fragwürdig, einen neuen genderindifferenten Artikel durch Zusammenfügung zweier binären Wörter zu kreieren – als wäre das Spektrum Gender schließlich doch… binär. Ich bin von den Vorschlägen nicht überzeugt.

4.7 – Wieso nicht -eu statt -oj für den Plural?

Die theoretischen Vorteile: Das (tendenziell männliche) -e bliebe und schüfe höhere typographische Konsistenz, es wäre ein behutsamerer Eingriff. Außerdem läge die Wahl nahe, wenn schon für den Singular -u verwendet werden soll.
Die Nachteile: -eu statt -oj ist letztlich in der Aussprache eine weniger deutlich distinktive Form. Ein -oj klingt dem Ansinnen nach schärfer, das -eu wäre näher an einem französischen „Ö“. Das -eu ist in der Tat typographisch unauffälliger. Behutsamer ist das, aber es wird auch weniger deutlich, dass man damit eine fundamentale psycholinguistische Änderung bezweckt. Um das zu erreichen, nehme ich beim -oj eine unnatürliche Orthografie in Kauf. Unsere Parameter bei der Auswahl operieren auf einem schmalen Grat: Einerseits sollen die neuen Endungen sich sprachmelodisch und typographisch elegant ins bestehende Deutsche einfügen. Andererseits wollen wir dennoch kenntlichmachen, dass sie neu sind und dezidiert kein bloßer ‚Ersatz‘ für das gebrochene generische Maskulinum, sondern mit ihnen auch etwas anderes gemeint ist. Umso wichtiger ist das bei der häufiger verwendeten Pluralform, die auf die einfachere Singularform abstrahlt. -eu statt -oj wäre gewissermaßen die logischere Wahl, aber es wäre nicht die klügere.

4.8 – Warum schreibst du „man“?

Ich habe eine Zeit lang mit „mensch“ experimentiert, aber halte das Wort für zu aufgeladen. Ein „man“ ist eine sprachphilosophische Entitätshülle wie ein „ich“, dafür ist mir noch kein adäquater Ersatz untergekommen. Alternativen wären da „eins“, was dieselbe dingliche Anstoßproblematik mit sich transportiert wie der „das“-Artikel für Menschen, und Formulierungen mit „wir“, „du“, „Sie“ und Personengruppen. Den „man“ vorerst weiterzuverwenden halte ich gemessen an seiner schwachen Problematik verglichen mit der Thematik ums genetische Maskulinum bei Substantiven für vertretbar. Dieses Wortproblem ist nicht mehr als ein Perfektionsjucken.

5 – Wie sollen wir das bekanntmachen?

Dadurch, dass überzeugte Lesoj dieses neue Genus in ihren Texten anwenden und damit die Idee verbreiten. Ihr müsst dafür kein Redakteuru sein, sondern bringt die Kunde bereits in die Lande, indem ihr auf euren Kanälen in sozialen Netzwerken mit der neuen Substantivform experimentiert. Anders als das Französische mit der Académie française hat das Deutsche keinen institutionellen Sprachwächter. Unsere vor allem von der Kultusministerkonferenz getragene Gesellschaft für deutsche Sprache beobachtet nur den Gebrauch und die Verwendung der lebendigen Sprache und formuliert danach Empfehlungen. Abgesehen von behördlichem Schriftverkehr und in der schulischen, nicht universitären Lehre kann im Grunde jedu so schreiben, wie es ojm gefällt. Darum ist in diesen nichtamtlichen Kontexten die hier vorgeschlagene vierte Form so wenig ‚falsch‘ wie der Unterstrich oder der Stern. Sprache ist ein lebendiger Aushandlungsprozess und wir haben im deutschen Sprachraum sogar das Glück, dass neue Umgangsformen rasch in die (nichtoffiziellen) offiziellen Regelwerke aufgenommen werden, wenn sie nur in auffälligem Maße im Sprachgebrauch von Bevölkerungsgruppen gebräuchlich geworden sind. Ich bin zuversichtlich, das sollte mit einer behutsam erweiterten Grammatik um ein weiteres Genus möglich sein, das doch so behände viele der momentan herumgereichten harten Nüsse der sprachlichen Gleichstellung knackt.

6 – Weiterführende Lektüreempfehlungen

Ist Gendern der „Tod der Sprache“? (Spoiler: Nein)
Armin Wolf, der österreichische Claus Kleber, hat da einen guten Text über Sprachkritikoj und journalistisches Handwerk geschrieben.

Gendern: Aufreger in den Medien (Zapp-Beitrag)
Interessante Perspektive von Medienschaffenden (huch, ein Partizip). Daraus meiner Meinung ein gewichtiger Einwand in den letzten vier Minuten: „Sprache entwickelt sich meistens hin zu ökonomischeren, zu einfacheren Formen. Gendern ist eine komplexere Form, eine umständlichere Form.“
Nicht dass eine erweiterte Grammatik ihrem Wesen nach keine Verkomplizierung wäre, aber sie ist die Alternative zu Beidnennungen, Glottisschlag mit Tendenz zum de facto generischem Femininum und indirekten genusindifferenten Umformulierungen, die niemand in der Umgangssprache sprechen oder in einem Lied singen würde.

Was bringt Gendern wirklich? Quarks TabulaRasa
Kurzweilige Einführung und Zusammenfassung über Sinn und Optionen von Genderung mit Anriss von einigen interessanten Studienergebnissen. Aufschlussreich auch: Das Kapitel „Gendern im Mittelalter“, das dem generischen Maskulinum nachspürt.

Neue Forschung zur Debatte über gendersensible Sprache: Frauen können Freunde sein (S+) (Blendle)
»In mittelhochdeutschen Schriften wie dem „Sachsenspiegel“ finden sich auch Belege für den generischen Gebrauch des Singulars. Beispielsweise wenn eine Mutter „als Gast in des Sohnes Gewahr“ bezeichnet wird. Und das, obwohl damals auch die weibliche Form „Gästin“ üblich war. Eine echte generische Verwendung des Wortes „Gast“, so die Forscher, könne „seit dem Althochdeutschen als gesichert gelten“. Ähnliches gelte auch für Worte wie „Nachbarn“, „Freunde“ oder „Sünder“, für die sich ebenfalls historisch alte Belege finden ließen.«
Das ist interessant, aber der Spiegel-Artikel (und vielleicht auch das rezensierte Buch) ziehen die falschen Schlüsse daraus. Es ist doch klar bewiesen, dass sich Frauen weniger gemeint fühlen, wenn von „Informatikern“, „Ingenieuren“ usw. gesprochen wird, DAS ist doch die eigentliche Argumentation für geschlechterneutrale Sprache und nicht „das generische Maskulinum ist eine neuzeitliche Erfindung“, was nun widerlegt sei und damit die Erfordernis für neutrale Formen hinfällig. Was sollte es überhaupt für einen Unterschied machen, wenn das generische Maskulinum nur eine neuzeitliche Erfindung wäre? Wäre damit das generisch maskuline „Physiker“ qua linguistischer Historienforschung genderneutral entschärft? Es geht doch darum, wie unser Sprachgefühl, unsere Konzeption von Sprachbildern, im Jetzt und Heute ist.

Gendergerechte Sprache: Ist das * jetzt Deutsch? (S+) (Blendle)
Ein äußerst umfassender Leitartikel des Spiegels zum Thema.

Die Lücke in unserer Sprache – NDR Info Synapsen
Überaus hörenswerte Diskurszusammenfassung zum Thema Gendern im Deutschen. Unter anderem werden hier gut die Differenzen zur englischen Praxis herausgearbeitet. Für mich aufschlussreich war auch, dass DDR-Frauen dem westdeutschen feministischen Sprachdiskurs (der Beidnennung) eher ablehnend gegenüberstanden, weil ihr Selbstverständnis soziokulturell ein anderes war, mit mehr Rechten und Gleichstellung. Das DDR-Deutsche hatte also einen strukturell ähnlichen Pfad eingeschlagen wie englischsprachige Feministinnen. An dieser Stelle lässt sich spannend ein Einblick in die Verschränkung von Sprachentwicklung und Kultur gewinnen. Persönlich ist mir der DDR-deutsche Sprachpfad mit seiner Ver-Sozialisierung der generisch maskulinen Berufsbezeichnungen als arbiträr neutrale Formen durchaus sympathisch. Es hilft aber alles nichts, das ist nun mal nicht der soziokulturelle Sprachpfad, den das Bundesdeutsche die letzten Jahrzehnte eingeschlagen hat.

Fruchtbar ist auch diese Kommentierung von Damaris Nübling, Professorin für Historische Sprachwissenschaft des Deutschen an der Universität Mainz, der Vorschläge von Nele Pollatschek: „Das Englische ist keine Genus-Sprache, das Englische hat kein nominales Genus (Femininum, Maskulinum, Neutrum), wie es das Deutsche hat, wo jedes Substantiv einem bestimmten Genus angehört. Deswegen bringt es überhaupt nichts, zu sagen: ach, machen wir es doch wie im Englischen. – Das wäre ein Eingriff in die Sprache, da müssten wir sagen: Das Stuhl, das Tisch und das Lampe usw., das ist unsinnig. Insofern erübrigen sich solche Vergleiche mit dem Englischen, weil sie unwissenschaftlich sind. Es sind unterschiedliche Sprachen, die ganz unterschiedlich funktionieren.“

Sehr anschlussfähig daran ist von Damaris Nübling auch dieser Aufsatz über den Zusammenhang zwischen grammatischem Geschlecht und Sexus, warum das grammatische Geschlecht keineswegs zufällig gewählt wird und warum generisches Maskulinum nicht funktioniert. Hier eine kleine zitierende Kaskade dazu.

Linguist über geschlechtsneutrale Sprache: »Unsere Vorstellung, was gutes Deutsch ist, wurde im 19. Jahrhundert geprägt« (S+) (Blendle)
Spannende Gedanken über Identitätspolitik und Entfremdung: »Absolut, Sprache ist identitätsstiftend. Das hat Tradition in Deutschland, weil es lange keinen Nationalstaat gab [anders als in Frankreich]. Sprache war ein Ersatz dafür. Dass das so positiv konnotiert ist, nutzt heute aber auch die AfD.«

Studie aus Schweden: Geschlechtergerechte Sprache wirkt
»In Schweden gibt es ein geschlechtsneutrales Pronomen. Eine Studie zeigt: Dessen Nutzung beeinflusst unmittelbar die Wahrnehmung von Geschlechterrollen.«

Fair und inklusiv in Sprache und Bild (PDF)
Niedrigschwelliger und dennoch umfassender Leitfaden der Wirtschaftsuniversität Wien zu den derzeitigen Möglichkeiten, Fallstricken und Empfehlungen geschlechtergerechter Kommunikation. Eine hervorragende Handreiche für die Lehre. Illustiert gut die vielfältigen nötigen Umformulierungen und Alternativformen, die ohne eine erweiterte Grammatik nötig sind.

Luise Pusch: Debatte Geschlechtergerechte Sprache: Eine für alle
»Die Linguist geht reuevoll zurück an den Schreibtisch und kommt mit einem Zweistufenplan zurück. Erste Stufe: Das Femininum wird forciert mit allen Mitteln, die erlaubt sind. Damit die Sprachgemeinschaft sich daran gewöhnt, dass es auch Frauen gibt. Zweite Stufe: Wenn die Sprachgemeinschaft herangereift ist und sich an die Existenz von Frauen gewöhnt hat, setzen sich die Geschlechter (oder ihre Delegierten) an einen Tisch und handeln, ähnlich wie die Tarifparteien, einen Kompromiss aus: eine Sprache, die für beide – heute sagen wir besser: alle – Geschlechter gerecht und bequem ist. […]
Soll die dritte Option grammatisch im deutschen Sprachsystem sichtbar gemacht werden, bräuchte es eine weitere Endung und ein neues Pronomen.«
Zuletzt skizziert sie auch ihre Idee mit der „-il“-Endung.

Leitlinien der Gesellschaft für deutsche Sprache zu den Möglichkeiten des Genderings (Stand August 2020)
Diese Sammlung erörtert in epischer Breite die Vorzüge und die Schwächen diskutierter Genderungsideen. Dass das Fazit lautet, nur die Beidnennung, Schrägstrichlösung und Ersatzformen könnten momentan empfohlen werden, soll die Lesebereitschaft nicht schmälern, denn die Begründungen sind nachvollziehbar und entsprechen den Tatsachen. So heißt es dann im Ausblick: »Somit wäre es notwendig, ein viertes Genus zu etablieren und entsprechend neue Flexionsformen, Artikel und Pronomen zu entwickeln. Doch eine institutionell verordnete Umstrukturierung und Ergänzung großer Teile der deutschen Sprache steht einer natürlichen Sprachentwicklung mit ihren natürlichen Ökonomisierungsbestrebungen konträr entgegen. Insofern sind realistische und orthografisch wie grammatisch korrekt umsetzbare Möglichkeiten einer umfassend geschlechtergerechten Sprache weiterhin zu diskutieren.«

Interessante Hintergründe aus 2023 zum Rat für deutsche Rechtschreibung (SZ+, Blendle), nicht zu verwechseln mit der Gesellschaft für deutsche Sprache, die die Kultusministerien berät, jene sich jedoch wiederum an den Empfehlungen des Rates für deutsche Rechtschreibung (vulgo deutscher Rechtschreibrat) orientiert:
»Die Hoffnung wäre also begründet, dass eine Institution wie der Rechtschreibrat gegen diese Spaltung [in der Frage des Genderns] einschreiten könnte, zumal er zu so etwas gegründet wurde. Erst 2004, damit ist er eine junge Institution im Vergleich etwa zur mächtigen Académie française, die seit 1635 über die französische Sprache wacht. Ursprünglich richtete man den Rat ein, um des Chaos Herr zu werden, das durch die Rechtschreibreform von 1996 und den Widerstand von Verlagen, Medienhäusern und Lehrerverbänden dagegen entstanden war. […] Die Diskussion sei kontrovers gewesen, sagte der Vorsitzende Josef Lange nach der Sitzung des Rates, die ja nun auch kaum ein Ergebnis gezeitigt hat. Das könnte man als Zeichen verstehen, dass sich der Rat ebenso blockiert zeigt wie die Gesellschaften des Westens in ihren Kulturkämpfen insgesamt. Nach Institutionen, die diese Kämpfe in vernünftige Bahnen zurücklenken könnten, wird unterdessen weiter gesucht.«
Siehe auch diese Kaskade von Anatol Stefanowitsch dazu, weshalb der Rechtschreibrat wohl die falsche Institution für ein Genderungs-Regelwerk ist. Ich unterstreiche dies: „[…] bin ich grundsätzlich gegen eine Standardisierung, u.a. weil ich befürchte, dass man dabei mehr auf Medienhäuser und Corporate Stakeholders hören würde, die den traditionslosen und unauffälligen Doppelpunkt bevorzugen, statt auf die zu inkludierenden Communities, die den Unterstrich oder (als Kompromiss) das Sternchen bevorzugen; und weil ich grundsätzlich dagegen bin, laufende Sprachwandelprozesse vorschnell zu standardisieren.“

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