Die Linkspartei hat moralischen Totalschaden

Ich habe die Linke schon immer unterstützt und gewählt nicht für das, was sie ist, sondern für das, was sie sein könnte. Nach einigen Jahren im Solid- und Linkspartei-Umfeld hat es über die letzten zwei Jahre vermehrt in mir gegärt und nach sukzessiver Entfremdung habe ich an diesem Wochenende den Entschluss gefasst, die Partei zu verlassen.

Für diesen Entschluss habe ich mir und der Partei viel Zeit gelassen:

  • Nachdem die Gesamtpartei während der gesamten Corona-Pandemie keine Vision einer solidarischen besseren Gesellschaft zustande gebracht hat, keinen Pandemieweg vorgeschlagen hat – wegen ihrer Zerstrittenheit sich nicht beherzt auf die darum flehende Seite der Wissenschaft geschlagen hat (NoCovid? Irgendwas?) – kaum etwas verbreitete, was nach einer Utopie von Sozialismus duftete – und nachdem sich die im Ansatz gute Vermögensabgabe im Wahlkampf als angreifbar undurchdacht herausstellte, was der ganzen Sache schadete
  • Nachdem ich mich spätestens seit dem BTW-Wahlkampf wegen des Listenplatzes + ›versöhnlichen Wahlkampfauftritten‹ mit der Parteiführung für Sahra Wagenknecht und ihren stetigen Querfront-Äußerungen für die Partei in den Boden schämen musste
  • Nach transfeindlichen Äußerungen und Abstimmungsverhalten von Dağdelen, Ernst, Wagenknecht, Ulrich
  • Nach dem Desaster der dogmatischen Afghanistan-Abstimmung
  • Nach der BTW ohne Konsequenzen für die Querfront, die einfach genauso weiter ihr Programm durchziehen durfte und alle Expertojkritik ignoriert wurde, weil der Flügel ja so viele Fans und Einfluss habe (die Erpressung der Noch-gerade-so-Fraktion macht es nicht besser) – unbeachtet, dass diese Fans eigentlich die Feinde des beschlossenen Wahlprogramms sind
  • Nach der Besetzung von Automobil-Enthusiast Klaus Ernst für den Klimaausschuss trotz lauten Protesten aus Parteibasis und Klimabewegung
  • Ach, nach leidenschaftlichem Engagement (MV) und vehementer Verteidigung (Bundestag) des schon rein energiewirtschaftlich faktisch unnötigen Nord Stream 2, das strategisch konzipiert wurde, um die Ukraine beim Gastransit auszuschalten und im Kriegsfall Russlands Finanzen zu sichern – aber hinter der Kritik daran steckten ja nur die phöösen Amis, die uns unbedingt Fracking-Gas andrehen wollten – weil, Fracking-Gas sei die Alternative zu… einer weiteren Pipeline, die an sich schon gar nicht nötig ist
  • Nach dem Ukraine-Angriff Putins, der schonungslos offengelegt hat, wie ideologisch verblendet die Partei und ihre Vorläufer seit Jahrzehnten gewesen sind
  • Nachdem Wagenknecht und Amira Mohamed Ali selbst dann noch die Nato für den Krieg verantwortlich machen wollten [Nachtrag 12.04.: Der von mir bisher noch für vernünftig gehaltene Riexinger twittert darüber, wir müssten „raus aus der militärischen Logik“, statt schwere Waffen zu liefern, was nach den letzten Wochen entweder 1) unfassbar naiv ist (dieser ostentative pazifistische Glaube, dass durch Ende der militärischen Unterstützung Putin zu Verhandlungen bereit wäre – er will die Ukraine als Staat auslöschen), oder 2) er bewusst in Kauf nimmt, dass Putin den totalen Völkermord begeht, der uns aber dann nicht beträfe, weil ~Pazifismus~ // Unsere Reutlinger Abgeordnete äußert sich ebenso. 🤡 Ich weiß ja nicht, ob die alle wirklich so unbelehrbar verblendet sind, oder aus Pfadabhängigkeit selbst jetzt noch den pazifistischen Markenkern der Linkspartei für Profilierungszwecke herausstellen, in der Hoffnung, die Sympathien anderer Verblendetoj einzusammeln – aber was wäre denn besser?]

… ist bei mir mit der weitgehenden Ablehnung der Impfpflicht wegen fadenscheinigen Gründen der Kessel übergelaufen. Legalismus tötet! Die Zustimmung zur solidarischen Impfpflicht war unter Linken-Sympathisantoj beinahe bei 60%! Ich kann das nicht mehr mittragen.

Fürs Protokoll: Ihr seid todeslost!

Wir brauchen eine sozialistische und gesellschaftsliberal-progressive und pro-europäische Partei für einen sozial-ökologischen Systemwechsel. Ihr seid es nicht. Und mit diesen Strukturen werdet ihr euch aus eurem Dilemma auch nie herausentwickeln können.

Adieu.

Lesetipps:

Die Linkspartei ist ein gescheitertes politisches Projekt
»So entstand eine Institution, die unfähig ist, Konflikte auszutragen, die alles aussitzen muss, weil die Angst vor dem Bruch der Organisation, dem Abstieg in die Kleinstparteienkategorie, allen Kampfeswillen abtötete. So eine Art Linksmerkelianismus, den niemand braucht.«
Nur seine Darstellung einer konflikthaften Dichotomie bestehend aus »linke[n] Westgewerkschaftszampanos (WASG) und vage sozialdemokratische[n] Ostapparatschiks (PDS)« halte ich für eine unterkomplexe Analyse, die nicht berücksichtigt, dass heute kaum mehr originale Ex-SED-PDSloj maßgebend beteiligt sind und die auch nicht das Sprengpotential der Antiimps, pseudo-sozialistischen Nationalistoj und Anti-Gesellschaftsliberaloj erklärt – die aktuellen Konfliktlinien. Die pluralistische Linkspartei ist eben viel, viel kaputter. Das Zitat oben und sein Kontext im weiteren Artikel leitet trotzdem das kulturelle Unvermögen zum Absägen von einflussreichen Querulantoj her.

Politisierung Anfang der Achtzigerjahre: Warum meine Generation eine Mitverantwortung für den Krieg in der Ukraine trägt
Dieser herausragend gute Text erklärt die Genese der pazifistischen Verblendung innerhalb der Linkspartei und Teilen der SPD (die Grünen haben es erstaunlicherweise als Erste geschafft, das Perspektivproblem durch geschickte Führung innerparteilich kleinzukochen). Ich würde sehr gerne großflächig daraus zitieren, beschränke mich aber wegen des Urheberrechts auf diesen Aperitif:
»Die Friedensbewegung stand in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Achtzigerjahre für eine Art früher Identitätspolitik: Wer an der Hamburger Uni Politikwissenschaft studierte wie ich, war links und musste dabei sein. 300.000 Menschen im Hofgarten konnten sich nicht irren. […] Unter dem Atomschirm der Amerikaner lebten wir so behaglich, dass wir glaubten, wir könnten auf ihn verzichten. […] Kiew und die Ukraine kannten wir nur vom Hörensagen, beides gehörte in unseren Augen irgendwie zu Russland. Die Sowjetunion war ein von unfreundlichen Pelzmützenträgern und missmutigen Mütterchen bewohntes kaltes Dunkelland. Die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien galten als absolut unsexy, das Baltikum kam in unserer Vorstellungswelt überhaupt nicht vor.«

»Junge Parteimitglieder sind die Zukunftsträger«
Juliane Nagel, Landtagsabgeordnete für die Linke in Sachsen:
»Die jungen Parteimitglieder sind die Zukunftsträger. Sie müssen sich wohlfühlen und bleiben wollen. Dafür braucht es eine andere politische ­Kultur, sie müssen mit ihren Themen ernst genommen werden. Wenn das nicht funktioniert, muss man sich im Notfall von Leuten trennen, die im Kopf nicht links und progressiv sind, sondern traditionalistisch; die zwar immer das Parteibuch hatten, aber nicht mehr Motor einer modernen, linken Partei sein wollen. Im Zweifelsfall muss man jüngeren Menschen den Vortritt lassen. Wir brauchen einen Prozess, der zu einer progressiven linken Partei führt, die neue Fragen neu beantwortet.« 🍿
Meine Prognose: Das wird bei diesen EgomanInnen nicht passieren.

Nachtrag: Als ich diese obige Abrechnung aufgesetzt und in der Ursprungsfassung auch schriftlich an den Parteivorstand gesendet habe, waren die Fälle sexueller Übergriffe und des Missbrauchs in der Linken noch nicht mal raus. 🤡 (Bzw. geisterten nur vereinzelt als kleine Empöris seit zwei Jahren auf Twitter rum, aber hatten erst dann Konsequenzen, als der Spiegel berichtete.)

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